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„Lean Services sind auch mit Item Hierarchies kein adäquater Ersatz für MM-SRV“

22. Januar 2024 ・ 8 Minuten Lesezeit
Interview,  Lean Services,  MM-SRV,  S/4HANA

Der neue Serviceeinkauf in S/4HANA trägt den Namen „Lean Service Procurement“, um sich vom klassischen Dienstleistungseinkauf (MM-SRV) abzugrenzen. 2022 wurde die Architektur der Lean Services um sogenannte „Item Hierarchies“, d. h. Positionshierarchien, erweitert – und unterscheidet sich weiterhin deutlich, auch wenn SAP diese Erweiterung als vollwertige Alternative zum SAP-Modul MM-SRV und deren mehrstufigen Leistungsverzeichnissen kommuniziert. Seit unserem letzten Blogbeitrag vom Oktober 2022 sind die Lean Services mit der Einführung von S/4HANA nun bei vielen unserer Kunden im Einkaufsalltag angekommen. Über die Konsequenzen berichtet Geschäftsführer Hartmut Schwadtke.

Mit welchem Versprechen hat SAP das neue Architekturmodell lanciert?

Hartmut Schwadtke: SAP verkauft diesen Ansatz als Vorteil und beschreibt MM-SRV als eine Art komplexe Verwaltung von Dienstleistungen, wogegen Lean Service Procurement einen kollaborativen Ansatz hat. Und genau an dieser Stelle tut sich der Haken auf, denn genau das Gegenteil ist der Fall: Die Konstruktion des Lean Service Procurement von SAP ist nicht darauf ausgelegt, mit Partnern Daten auszutauschen. Alle können ggf. im „schlanken“ Datenmodell in der Cloud zusammenarbeiten, aber im Einkauf und der Zusammenarbeit mit Lieferanten ist dieser Ansatz blanke Theorie.

SAP meint, man „arbeitet“ gemeinsam in der Cloud mit dem Lieferanten, aber das ist Quatsch, zumindest für den Einkauf. Leistungsverzeichnisse im heutigen Sinne werden von Ingenieurbüros oder Planungsabteilungen erarbeitet und dort ist eine Affinität zu SAP nicht unbedingt gegeben. Die Büros oder Abteilungen nutzen spezielle GAEB-konforme Software und liefern das Ergebnis im GAEB XML-Format ab.

Warum spielt denn MM-SRV eine so große Rolle?

Hartmut Schwadtke: Das SAP Modul MM-SRV ist bei den Kunden etabliert, die ihre Dienstleistungsbeschaffung digitalisiert haben und zugleich dem Digital Core Ansatz der SAP folgen. SAP Digital Core heißt: Alle Daten und Informationen im Detail zu verwalten und eben auch unmittelbar auswertbar in SAP abzubilden – nicht nur als Anlage. Genau das ermöglicht MM-SRV.

Das besondere Merkmal ist zum einen die Abbildung von mehrstufigen Leistungsverzeichnissen mit dem Pos.-Typ „D“ und zum anderen – das ist entscheidend – die Konformität und Kompatibilität mit GAEB, dem etablierten Standard für den Datenaustausch mit Leistungsverzeichnissen schlechthin. Erst damit ist eine „Zusammenarbeit“ und ein Austausch mit Lieferanten und auch Planern möglich.

In welchen Branchen kommt der GAEB-Standard zum Einsatz?

Hartmut Schwadtke: GAEB ist seit über 50 Jahren fester Bestandteil des Baualltags – angefangen von der Bau- und Baustoffwirtschaft, Bauindustrie über die Wohnungswirtschaft bis hin zu Ingenieuren und Architekten und selbst dem Engineering. GAEB wird gar in die Welt hinausgetragen. GAEB ist quasi das Synonym für den Datenaustausch für Planungs-, Ausschreibungs- und Vergabe- sowie Abrechnungsprozesse.


Und warum will sich SAP lieber heute als morgen vom Modul MM-SRV verabschieden?

Hartmut Schwadtke: Ich denke, da gibt es mehrere Gründe. Ein sicherlich grundlegender Aspekt mag SAP Ariba sein, die Cloud-Lösung für Einkauf und Beschaffung im SAP-Portfolio. Über SAP Ariba und dem Lieferanten Network sollen Ausschreibungen abgewickelt werden. Ariba wurde 2012 von SAP übernommen und seitdem mehr oder weniger in das SAP-Backend integriert – allerdings war und ist Ariba für die Abbildung dieser Leistungsverzeichnisse nicht geeignet.

Eine daher oft eingesetzte Methode, GAEB-Leistungsverzeichnisse als E-Mail-Anlage zu senden, passt da ja nun nicht so recht in den Geist einer nahtlosen und durchgängigen Digitalisierung. Schon gar nicht mit dem Digital-Core-Anspruch. Zudem, wo bleibt im Einkauf die Compliance, wenn Ausschreibungen per E-Mail erfolgen.


Das heißt, MM-SRV passt nicht (mehr) in die strategische Ausrichtung von SAP?

Hartmut Schwadtke: Das mag man annehmen, denn SAP hat selbstverständlich einen Blick auf die globalen Kunden und in diesem Zusammenhang spielen die Anforderungen der Unterstützung des GAEB-Formats wahrscheinlich keine Rolle. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber für die Kunden, die heute MM-SRV mit dem Pos.-Typ „D“ nutzen und darüber ihre Dienstleistungen abbilden, dass SAP sie mit dem Lean Service Procurement im Regen stehen lässt. Lean Services sind auch mit Positionshierarchien kein adäquater Ersatz für die Dienstleistungsbeschaffung mit MM-SRV – auch wenn SAP das Gegenteil behauptet. Wie sagt man treffend: Das ist so, als wenn man Äpfel mit Birnen vergleichen würde.

Wie ist denn nun die Erweiterung der Lean Services mit den „Item Hierarchies“ einzuordnen?

Hartmut Schwadtke: Angetreten sind die Lean Services ja als neuer vereinfachter Prozessablauf. Die Differenzierung von Material und Dienstleistungen sollte nur durch die Verwendung des Produkttyps vorgenommen werden – das war die Geburtsstunde der Materialart „SERV“. Fast zeitgleich wurde jedoch im Rahmen der SAP Customer Engagement Initiative (CEI) 2019 von Seiten verschiedener SAP-Kunden die Anforderung der „Multi Level Purchase Requisition“ angestoßen.

Daraus ist dann letztlich die Datenstruktur der „Item Hierarchies“, d. h. Positionshierarchien, geworden, die nun seit dem Release 2022 in S/4HANA On Prem eingeführt sind. Operative Erfahrungen fehlen allerdings noch, ein Kunde von uns möchte Anfang 2024 als weltweit erstes Unternehmen Lean Services mit Item Hierarchies produktiv anwenden.

Woran orientiert sich denn die Struktur der „Lean Services mit Positionshierarchien“?

Hartmut Schwadtke: Grundlage war tatsächlich ein deutscher Standard, die DIN SPEC 77229, bei der es um Leistungskategorien und -inhalte zu technischen Dienstleistungen und industrielle verfahrenstechnische Anlagen geht. Die DIN SPEC, also DIN Spezifikationen, werden durch projektbezogene Gremien unter Beratung vom DIN erarbeitet. Sie sind schneller und kostengünstiger als eine Norm zu verabschieden.

Aktuell gibt es zum Themengebiet Bau unter dem Dach der DIN SPEC 77229 neun verschiedene Gremien und Dokumentationen, darunter z. B. für Rohrleitungsbau und Metallbau, beides 2019, oder 2021 für Gerüstbau und zuletzt 2022 für Kälte-, Wärme- und Schallisolierung oder elektrische Begleitheizung.

Ziel ist es jeweils, Leistungsverzeichnissen mit standardisierter Struktur und standardisierten Leistungskategorien mit detaillierten Leistungsbeschreibungen zu entwickeln, um der enormen Variantenvielfalt der Standard-Leistungsverzeichnisse (StLV) Herr zu werden. Das kennen wir schon seit Jahren aus diesem speziellen Fachbereich, jetzt kommt da Bewegung herein.

Abb. 2: Aufbau Leistungskategorien DIN SPEC 77229
Abb. 1: Aufbau Leistungskategorien DIN SPEC 77229
(Quelle: DIN SPEC 77229-100, Mai 2022, ICS 01.040;91.010.20, DIN Deutsches Institut für Normung e. V., S. 13)

Diesen Schritt hat GAEB ja schon vor Jahren getan.

Hartmut Schwadtke: Ja genau. Und nicht nur das: Es geht nicht darum, den Aufbau eines LVs mit Leistungskategorien zu beschreiben, sondern den Austausch mit Partnern, wie Lieferanten, ansonsten funktioniert Einkauf und Beschaffung nicht – also der Blick auf den Datenaustausch. Das haben die DIN-Spezifikationen nicht auf dem Schirm. Und auch nichts mit den untrennbar an eine GAEB-Struktur gebundenen Standardleistungsbüchern für das Bauwesen: Die in dieser DIN SPEC festgelegten Leistungsinhalte entsprechen nicht der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen, kurz VOB. Sie sind nicht dazu vorgesehen, bei Leistungen des Hoch-, Tief-, Wasser- und Verkehrsbaus verwendet zu werden, so heißt es zum Anwendungsbereich der jeweiligen Geschäftspläne der DIN SPEC 77229.

Wir haben also GAEB und MM-SRV auf der einen Seite und SAP Item Hierarchies und DIN SPEC 77229 auf der anderen – wie kommt das nun zusammen?

Hartmut Schwadtke: Ganz einfach: gar nicht. Die Gemeinsamkeit ist die Beschreibung von Dienstleistungen. Der Unterschied sind die Anwendungsfälle und Datenstrukturen. Grundsätzlich ist die Struktur der Lean Services mit Positionshierarchien nicht GAEB-kompatibel. Man könnte meinen, dass das Lean Service Procurement auf die industrielle Instandhaltung fokussiert ist. Es wäre jedoch einfach gewesen, eine „GAEB-Konformität“ mitzunehmen, hätte SAP über den Tellerrand hinweggeschaut und sich mit dem GAEB-Standard auseinandergesetzt.

Gegenüberstellung SAP MM-SRV und SAP Lean Services / Item Hierarchies
Abb. 2: Gegenüberstellung SAP MM-SRV und SAP Lean Services / Item Hierarchies
(eigene Darstellung)

Wo zeigt sich denn konkret die fehlende GAEB-Kompatibilität?

Hartmut Schwadtke: Tatsächlich an vielen Punkten und auch da, wo es im Einkauf weh tut, ganz besonders im Bau. Grundsätzlich fehlt z. B. das Los oder auch Baulos genannt, um auch Teile einer Maßnahme an unterschiedliche Auftragnehmer zu vergeben. Bei GAEB werden die 4 Titelebenen und das Los als Stufe gezählt, die Positionen kommen noch hinzu – gemäß der SAP-Zählweise wären es damit 6 Stufen. Item Hierarchies können jedoch nur 5 Stufen abbilden.

Damit ist klar, dass ein GAEB-LV mit Losen und 4 Titelebenen nicht nach SAP mit Item Hierarchies übertragen werden kann. Auch wird die Nummerierung anders gehandhabt. Das Ergebnis: Auch ohne den Einsatz von Losen gibt es keine Referenz zwischen dem ursprünglichen GAEB-LV und der SAP-Positionshierarchie.

Vorhin sprachen Sie das Ingenieurbüro oder auch die Bauabteilung an. Was passiert nun mit den dort angefertigten GAEB XML-Formaten?

Hartmut Schwadtke: Zu den Item Hierachies können solche Leistungsverzeichnisse nicht eingelesen werden, da wie bereits gesagt, die Strukturen nicht zusammenpassen. Da hilft es nur, die GAEB-Datei als Anlage zur Ausschreibung zu versenden, ein erheblicher Rückschritt bei allen Digitalisierungsbemühungen.

Und wo sonst wird es im Prozess haken?

Hartmut Schwadtke: Hier ist sicherlich das Thema „Nachträge“ zu nennen, eine leidige aber eben auch allgegenwärtige Tatsache in der Bauwirtschaft. In MM-SRV wird ein Nachtrag ganz einfach unter einer weiteren Position derselben Bestellung abgebildet. Dies ist mit den Item Hierarchies nicht möglich.

Wenn der Einkauf dann statt mit einer Bestellung und bspw. 10 Nachträgen und damit 10 Bestell-Positionen arbeitet, müsste er dann 10 Einzelbestellungen anlegen, tja, da kann man ja kaum von einem aktiven Controlling sprechen und den Einkäufern wird das gewiss nicht gefallen. Insofern fehlt auch hier die Praxistauglichkeit für die Abbildung von z. B. Investitionsmaßnahmen mit den Item Hierarchies.

Was bedeutet das nun für die SAP-Kunden?

Hartmut Schwadtke: Nun, ohne MM-SRV und ohne GAEB-Kompatibilität der Lean Services bleibt den SAP-Kunden eigentlich nur, die Digitalisierung SAP-basierter Beschaffung von Bauleistungen zurückzufahren. D. h. die über FUTURA ausgeschriebenen LVs verbleiben in FUTURA und in SAP wird kumuliert 1 LE angelegt.

Und das heißt: Ohne LV-Details in SAP keine Leistungserfassungen, kein Einkaufs- und Projektcontrolling und bye-bye – zumindest bei dieser Art der Dienstleistungsbeschaffung – vom SAP Digital Core. Das muss man ganz deutlich so sagen.

Was ist Ihr Fazit?

Hartmut Schwadtke: Im Grunde gilt es, als deutscher SAP-Kunde gegenüber SAP seine Interessen durchzusetzen, denn die Gebühren, die SAP verlangt, sind nicht wenige. Schließlich soll hier eine Funktion gestrichen werden, die bisher einen Standard, nämlich GAEB, unterstützt hat. Ein Ansatz wäre, von Kundenseite darauf hinzuwirken, dass die Item Hierarchies weiterentwickelt werden und damit eine GAEB-Kompatibilität hergestellt wird.

Dabei wird die Struktur und die Anzahl abzubildenden Ebenen nicht das entscheidende Kriterium sein, sondern eine Antwort darauf, wie mit Nachträgen und Bestelländerungen umgegangen wird.

Danke für das Gespräch.

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